Elf Jahre danach gelten die Flugzeuganschläge vom 11. September 2001 auf das New Yorker World Trade Center und das Pentagon in Arlington, die rund 3000 Menschen das Leben kosteten und die Welt in die Ära des "globalen Antiterrorkrieges" katapultierte, offiziell als aufgeklärt. Die Täter sollen beim Absturz der vier angeblich von ihnen gekaperten Passagiermaschinen ums Leben gekommen sein, während letztes Jahr in Pakistan eine Spezialeinheit der US-Marines den Auftraggeber Osama Bin Laden (OBL) ins Jenseits befördert haben will. Der mutmaßliche Chefplaner der 9/11-Operation Khalid Sheikh Mohammed (KSM) sitzt derweil im Sonderinternierungslager am US-Marinestützpunkt Guantánamo Bay auf Kuba, wo der Pakistaner belutschistanischer Herkunft auf seinem Prozeß vor einem Militärtribunal wartet.
Eine kriminalistische Recherche zu Finanzen, Öl und Drogen
Doch der Eindruck, der 11. September wäre damit abgeschlossen, die Hinterbliebenen hätten mit der Liquidierung des saudi-schen Al-Kaida-Chefs OBL endlich ihre seelischen Wunden schließen können, täuscht, und zwar gewaltig. Dafür gibt es viel zu viele Widersprüche und ungeklärte Fragen rund um den "Tag, der die Welt veränderte". Das Geständnis von KSM zum Beispiel geht auf die 183malige Anwendung der Wasserfolter zurück, die spätestens seit der Spanischen Inquisition dafür berüchtigt ist, von den Beschuldigten selbstbelastende Falschaussagen zu erzwingen. Im ersten Untersuchungsbericht der Geheimdienstausschüsse von Repräsentantenhaus und Senat, der 2002 erschien, waren 28 Seiten, die hauptsächlich die Beziehungen der USA zu Saudi-Arabien betrafen, woher 15 der 19 mutmaßlichen 9/11-Hijacker stammten, geschwärzt. Jener Umstand dürfte nicht zuletzt auf die Tatsache zurückzuführen sein, daß der Aufenthalt von zwei der Flugzeugentführer in den USA vor dem Angriff von der Eherau des damaligen Botschafter Riads in Washington, Prinz Bandar, finanziert wurde. Derselbe Bandar durfte mit der Sondergenehmigung seines Duzfreundes George W. Bush in den ersten Stunden nach den Anschlägen Dutzende ranghohe Saudis, darunter Angehörige des Bin-Laden-Clans, mit Sondermaschinen aus den USA ausfliegen und sie damit einer eingehenden Befragung durch das FBI entziehen.
Als Erklärung dafür, wie eine Gruppe arabischer Flugstudenten an dem größten Militär- und Geheimdienstapparat der Welt vorbei den USA ein zweites "Pearl Harbour" zufügen konnte, wird auf mangelnde Koordination seitens der verschiedenen Behörden verwiesen, die "failed to connect the dots", will heißen, die aus den vielen Hinweisen und Warnungen aus dem Ausland die richtigen Schlüsse nicht zogen. Ebenso rätselhaft bleibt bis heute das komplette Versagen der US-Luftverteidigung in der Stunde der Not. Schließlich haben sich nach der Veröffentlichung des Berichts der "unabhängigen" 9/11-Kommission 2004 deren beiden Vorsitzenden, der ehemalige republikanische Gouverneur von New Jersey, Tom Keane, und der ehemalige demokratische Kongreßabgeordnete aus Indiana, Lee Hamilton, öffentlich darüber beklagt, bezüglich der Gründe für die indiskutable Leistung der US-Luftwaffe am 11. September von den Verantwortlichen im Pentagon Donald Rumsfelds regelrecht belogen worden zu sein.
In den letzten Jahren sind zahlreiche Bücher erschienen, die den Schluß nahelegten, daß die Bush-Regierung entweder durch kriminelle Vernachlässigung der "Terrorabwehr" oder durch aktive Unterstützung die Flugzeuganschläge gefördert hat. [1] Mit "Mordanschlag 9/11 - Eine kriminalistische Recherche zu Finanzen, Öl und Drogen" will Lars Schall die Aufklärungsarbeit vorantreiben und bisherige Lücken in den Ermittlungen schließen. Der deutsche Wirtschaftsjournalist, der durch bestens recherchierte Artikel für die Asia Times Online gerade dabei ist, sich einen Namen in den entsprechenden Expertenkreisen in der englischsprachigen Welt zu machen, geht den finanziellen Hintergründen und Auswirkungen von 9/11 nach. Der Ansatz ist so lobenswert wie er naheliegend ist. Nicht umsonst lautet seit dem Watergate-Skandal die effektivste Methode, um politische Machenschaften auf den Grund zu gehen: "Follow the money".
In dem, was andere vielleicht als Verschwörung verstehen, sieht Schall nur eines: das Geschäft. Zwar deckt er im Laufe des Buchs auch die Einzelheiten des Anschlages einschließlich des sonderbaren Verhaltens von Bush jun., Rumsfeld und Vizepräsident Dick Cheney, ab, doch Schall interessiert sich hauptsächlich für die wirtschaftlichen Verflechtungen, die das schockierende und verstörende Ereignis von damals erst verstehbar machen. Die Geldüberweisungen im Sommer 2001 aus Dubai von Ahmed Omar Saeed Sheikh an Mohammed Atta in den USA zum Beispiel deuten nicht nur auf eine Verwicklung der britischen und pakistanischen Geheimdienste. Sheikh, der als Student an der London School of Economics (LSE) vom königlichen Auslandsgeheimdienst MI6 angeworben sein soll und später als Entführer und Mörder des Wall-Street-Journal-Reporter Daniel Pearl berühmt wurde, soll auf Befehl des damaligen Chefs des pakistanischen Inter-Services Intelligence Directorate (ISI), General Mahmood Ahmed, dem Leiter der 9/11-Kamikazetruppe, Atta, mehrere Zehntausend Dollar zukommen gelassen haben. Von dieser Einzelepisode ausgehend, behandelt Schall in allen Aspekten den "Antidrogenkrieg", in dem CIA und ISI seit Jahrzehnten führende Rollen spielen und der von seiner wirtschaftlichen und Sicherheitspolitischen Bedeutung für die ganze Welt her als Vorläufer des "Kampfes gegen Terror" unserer Tage gelten müßte.
Für sein Buch hat Schall eigene Recherchen angestellt und zum Beispiel bei der Deutschen Bundesbank Erkundigungen über den Stand der Ermittlungen über diejenigen, die im Vorfeld des 11. September außergewöhnlich hohe Summen auf einen Anstieg von Rüstungsaktien und einen Absturz von Luftverkehrsaktien gewettet haben, eingeholt. Aus Frankfurt bekam Schall jedoch die gleiche Antwort wie von der Securities and Exchange Commission (SEC) in New York: Der Verdacht auf Insidertrading in Bezug auf die Flugzeuganschläge sei unbegründet gewesen, da die beteiligten Händler und Finanzhäuser in keinerlei Verbindung zu Al Kaida standen. Diese Erklärung läßt sich nur aufrechterhalten, wenn man auf Al Kaida als radikal-sunnitische Killerbande kapriziert. Schall dagegen verortet die erfolgreichste Einzelaktion jener undurchsichtigen Gruppe in den laufenden Machenschaften westlicher, vornehmlich angloamerikanischer Geheimdienste, bei denen es um den Kampf um Ressourcen im globalen Maßstab geht. Zu jenen Ressourcen gehört das Öl, über deren nachlassende Bestände sich Cheney bereits vor dem Amtsantritt als graue Eminenz im Weißen Hauses George W. Bushs sorgte.
Pläne zum Sturz der Taliban in Afghanistan und Saddam Husseins im Irak schmiedeten Cheney, Rumsfeld und ihre neokonservativen Berater ebenfalls bereits vor den Flugzeuganschlägen. Der Angriff auf Amerika legitimierte auf wundersame Weise den Versuch Washingtons, die Pipeline-Politik Zentralasiens und des Nahen Ostens neu zu diktieren, und sorgte dafür, daß nach dem Einmarsch der NATO in Afghanistan das Land am Hindukusch wieder zum Opiumanbauland Nummer Eins auf der Welt wurde. Darüberhinaus ließ der blutigste und spektakulärste "Terroranschlag" der Geschichte ein neues polizeistaatliches Regime in den USA einführen, an dem unter dem Titel "Continuity of Government" (COG) die Hardliner Cheney und Rumsfeld seit gemeinsamen Tagen in der Regierung Richard Nixons und Gerald Fords heimlich gearbeitet hatten. Jene Notfallexekutive, die ursprünglich für den Fall eines sowjetischen Nuklearangriffs gedacht war, wurde am 11. September 2001 unter dem Vorwand der nationalen Verteidigung gegen die "terroristische" Bedrohung aktiviert.
Für "Mordanschlag 9/11" hat Schall mit zahlreichen kritischen Kommentatoren aus der ganzen Welt Interviews geführt. Während der Kanadier Peter Dale Scott COG erklärt und der Schweizer Daniel Ganser den 11. September in die "Strategie der Spannung" der NATO einbettet, erläutert der Ex-FBI-Ermittler Michael Ruppert die Konsequenzen von Peak Oil und die Erkenntnisse über die Folgen der weltweit nachlassenden Ölreserven auf die damalige Bush-Administration. Mit unabhängigen Börsenanalytikern wie Ellen Brown und Catherine Austin Fitts untersucht Schall die Funktionsweise des Turbokapitalismus, dessen Krisenanfälligkeit, unter der derzeit alle bis auf die oberen Einprozent leiden, gewisse Handlungszwänge einschließlich solcher Sonderereignisse wie 9/11 produziert. Das Buch Schalls empfiehlt sich daher nicht nur dem reinen "Verschwörungstheoretiker", sondern allen, die mehr von der wirtschaftlichen Seite der politischen Ökonomie verstehen.
1. Siehe die entsprechenden SB-Rezensionen der Bücher unter anderem von Matthias Bröckers, Thierry Meyssan, Mosaddeq Ahmed, Gerhard Wisnewski, Andreas von Bülow, Daniel Hopsicker, Peter Dale Scott, Gerhard Wisnewski, Craig Unger, Jürgen Elsässer, Loretta Napoleoni, Jason Burke, James Risen, Peter Lance, Lawrence Wright und James Bamford unter INFOPOOL - BUCH - SACHBUCH.
Lars Schall
Mordanschlag 9/11
Eine kriminalistische Recherche zu Finanzen, Öl und Drogen
Schild-Verlag, Elbingen, 2011
335 Seiten
ISBN: 97838694013
Mit freundlicher Genehmigung von: schattenblick.de
Online-Zeitung SCHATTENBLICK
Schattenblick -> INFOPOOL -> BUCH -> SACHBUCH
REZENSION/595: Lars Schall - Mordanschlag 9/11 (11. September) (SB) Copyright 2012 by MA-Verlag, Dorfstraße 41, 25795 Stelle-Wittenwurth
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