Manchmal sind es Kleinigkeiten. Man sitzt beim Frühstück und überfliegt die Überschriften wie jeden Morgen. Nichts Überraschendes. Die üblichen Krisen, Streitereien, ein Krieg im Nahen Osten, das Wetter unbeständig. Und dann fällt einem doch noch das Brötchen aus der Hand. Wegen einer kleinen Meldung, versteckt im Innenteil.
Es geht um die IJU, die Islamische Jihad Union, eine Terrorgruppe, die Anschläge in Deutschland geplant haben soll. Rückblick: im September 2007 verhaften Ermittler deren "Sauerland-Zelle" - eben dort im braven Medebach-Oberschledorn. Eine koordinierte Aktion und ein großer Erfolg für die Sicherheitsbehörden, gefolgt von einer Pressekonferenz der Generalbundesanwältin. Diese erläutert vor medienwirksamer Kulisse eindringlich die gerade abgewendete Gefahr. Große blaue Fässer sind dort aufgestapelt, drohende Indizien im Blitzlichtgewitter der Kameras. Darin, so erfährt man, war ein Teil des Sprengstoffes gelagert worden. (1) Die Presse staunt. Zum Glück haben die Ermittler noch rechtzeitig zugeschlagen.
Das Fernsehen schweigt dazu. Ganz anders als vor einem Jahr, bei der großen Pressekonferenz. Es hatte auch schon geschwiegen, als bekannt geworden war, dass der Sprengstoff für die Anschläge auf Vorortzüge in Madrid 2004 von einem Spitzel des spanischen Geheimdienstes geliefert worden war. (4) Keiner der bekannten Terroranalysten oder Politiker kommentiert es.
Das schöne an der freien Presse ist wohl, dass man ihr nicht zuhören muss. Man kann ignorieren. Die Meldungen regnen wie buntes Konfetti zu Boden. Was nicht aufgehoben wird, spült der Regen weg. War da was?
Nein, da war nichts. Nichts, bis auf ein paar neue Gesetze. Das BKA soll nun private Festplatten ausspähen dürfen, Wohnungen mit Videokameras und Wanzen überwachen, "vorbeugend ermitteln". Die Grenze zwischen Polizeiarbeit und Geheimdienstschnüffelei verwischt. Na und? Wir haben ja nichts zu verbergen.
In Großbritannien ist man derweil schon weiter. 42 Tage dürfen britische Bürger dort in Untersuchungshaft genommen werden - sechs Wochen, einfach auf Verdacht, ohne jede Anklage. Anti-Terror-Gesetze machen es möglich. Wer sich verdächtig macht, bekommt in England schon mal eine elektronische Fußfessel und steht sodann per polizeilicher "Kontrollverfügung" unter Hausarrest. Notfalls zeitlich unbeschränkt. Natürlich ohne Gerichtsprozess. (5)
Derweil lassen nicht nur amerikanische Behörden Verdächtige zur "Erkenntnisgewinnung" im Ausland foltern, sondern auch schon die Deutschen, zum Beispiel das BKA im Libanon, wie die "Zeit" in einem ausführlichen Artikel berichtete (6).
Ein merkwürdiges Flair von Ausnahmezustand scheint in der Luft zu liegen. Und wird ständig wach gehalten, denn in fast schon regelmäßigen Abständen decken die Behörden neue Anschlagsplanungen auf. Pressekonferenz, Sicherheitsdebatte, und dann, später, nach einem Jahr oder zwei, sickert es durch: wieder waren Geheimdienstspitzel involviert, lieferten die Zünder, den Sprengstoff. Der örtliche "Hassprediger" wieder mal ein V-Mann des Verfassungsschutzes (wie im Fall der Sauerlandzelle). (7) Es folgen neue Gesetze, noch schärfere Regelungen. Keine Wasserflaschen und Nagelscheren mehr im Flugzeug, immer weniger Bürgerrechte am Boden. Was geht hier eigentlich vor?
Bis jetzt sind es nur Indizienketten, keine Beweise, die auf das schwer zu glaubende hindeuten. Sollten Sicherheitsdienste tatsächlich einige fanatisierte Islamisten geschickt am Gängelband führen? Um Vorfälle zu provozieren, die nach einer - vorbereiteten - Antwort rufen?
Offensichtlich ist, dass die Angst vor drohenden Terroranschlägen den öffentlichen Rückhalt für die westlichen Kriegseinsätze im Nahen und Mittleren Osten stärkt. Und das ist bei weitem nicht alles. Die seit dem 11. September 2001 in Gang gesetzte Dynamik ist viel umfassender. Zugrunde liegt eine Kriegslogik auf allen Ebenen. Eskalation, Aufrüstung, Angriff. Dies ist die Politik einer Personengruppe, die viel zu verlieren hat, und mit Macht den Status Quo sichern will.
Einige halten das für Verschwörungstheorie. Man argumentiert, dass die neuen Kriege viel zu teuer sind, als dass die unterstellten Ziele (z. B. „Blut für Öl“ im Irak) einen Sinn ergeben würden. Die Einsätze seien einfach unrentabel und deshalb wohl kaum gezielt provoziert worden. Auf den ersten Blick leuchtet das auch ein. Natürlich, warum soll ein Land mehr Geld für einen Krieg ausgeben, als es je dabei gewinnen kann?
Eine einfache Entgegnung lautet: die Leute, die den Krieg bezahlen, sind andere, als diejenigen, die von ihm profitieren. Dieses Argument ist so offensichtlich, dass verwundert, wie wenige Menschen es wahrnehmen. Die exorbitanten Kriegskosten in Afghanistan und dem Irak werden vom Steuerzahler getragen. Von den direkten und indirekten Folgen der Kriege profitieren dagegen einzelne Branchen und Firmen, die man sehr genau ausmachen kann.
• politisch extrem gut vernetzte Baukonzerne wie Bechtel, Parsons, KBR (die oft ohne öffentliche Ausschreibung zum Zug kommen)
• Ölkonzerne - die drei profitstärksten Unternehmen (weltweit und branchenübergreifend) waren 2007 in dieser Reihenfolge Exxon, Shell und BP mit einem Gesamtreingewinn von 80 Milliarden Dollar (wohlgemerkt, nur 2007)
• natürlich die Rüstungsbranche (Pentagon-Etat 2009: über 500 Milliarden Dollar, die höchste Summe seit dem Zweiten Weltkrieg)
• „Private Equity“-Unternehmen vom Schlage „Carlyle“, zu dem der Guardian schrieb: „Das besondere an Carlyle ist die Art, mit der es seine politischen Kontakte benutzt. Als Carlucci (Ex-US-Verteidigungsminister) dort 1989 begann, brachte er eine Riege von ehemaligen CIA und Pentagon-Untergebenen mit, sowie ein Bewusstsein für die Größe des Geschäfts, dass ein Unternehmen wie Carlyle in den Washingtoner Korridoren entfalten könnte. Über 15 Jahre hat die Firma eine Rendite von 34 Prozent erwirtschaftet und ist nun nach eigener Aussage das größte "Private Equity"-Unternehmen der Welt." (8)
Würden sich derartige Entwicklungen in einem Drittweltland abspielen, spräche man wohl von Korruption. Doch leider sind es die USA, unsere führende Weltmacht, die mit großer Selbstverständlichkeit unter dem Einfluss solcher Netzwerke regiert werden. Großbritannien ist dabei ein verlässlicher Partner. Und Deutschland läuft mit, auf dem Weg in die erste Liga der Großmächte. Die scheinbar regelmäßigen Terroranschläge sind so vielleicht nur der Begleit-Theaterdonner für eine Inszenierung, in der es mehr um Geldflüsse geht, als um Ideologien.
Fast vergessen scheint inzwischen auch, wie es zum Krieg in Afghanistan gekommen ist. Ein Blick ins Zeitungsarchiv hilft weiter. Bereits in den letzten Tagen der Regierung Clinton berichtete z. B. die Washington Post, die Vereinigten Staaten hätten „still begonnen“, sich mit jenen Kräften in der russischen Regierung zu verständigen, die ein militärisches Vorgehen gegen Afghanistan forderten. „Bevor man unter lokalem Druck zurückwich, ging man so weit zu erkunden, ob ein zentralasiatisches Land sein Territorium für einen solchen Zweck zur Verfügung stellen würde“, so die Zeitung weiter. Russland und die USA diskutierten, „welche Art von Regierung die Taliban ersetzen sollte.“ (9)
Es stellt sich die Frage: Warum wollten die USA „die Taliban ersetzen“? Wegen Frauenrechten? Wegen dem 11. September? Die zitierte Zeitungsmeldung erschien, wie gesehen, neun Monate vor dem Anschlag.
Vielleicht sind die Gründe doch eher in schnöder Geostrategie zu suchen. Ein Denksport, der den meisten Menschen fremd ist. Doch Legionen von Sicherheitsberatern und Think Tanks werden exakt dafür bezahlt, solche langfristigen Planungen und Modelle auszuarbeiten. Truppen in Zentralasien, um China einzudämmen? Den Iran zu kontrollieren? Strategische Basen im Land der Pipeline-Routen? Dazu eine globale Machtdemonstration, schlicht zur Einschüchterung unwilliger Regime?
Verteidigungsminister Jung scheint das nicht zu interessieren. Auch von seinem Vorgänger Struck oder den Kanzlern Schröder und Merkel wurden solche Fragen nie gestellt. Alles scheint einem blinden Automatismus zu folgen, den auch die regierungsnahe "Stiftung Wissenschaft und Politik" in einer aktuellen Studie ausdrückt: "Unter den Bedingungen einer Operation zur Aufstandsbekämpfung wie in Afghanistan (...) wird die politische Führung zukünftig vermehrt offensive Operationen unterstützen müssen." (10) Aufstandsbekämpfung - man hat richtig gelesen - ist demnach der neue Kernauftrag der Bundeswehr in Zentralasien. Das klang Ende 2001 noch ganz anders. Im damaligen UNO-Mandat war von einer "Sicherheitsbeistandstruppe" für einen Zeitraum von sechs Monaten (!) die Rede gewesen (11) (12).
Vergessen auch dies: nachdem Flugzeuge in die Türme des World Trade Center gestürzt waren und die US-Regierung umgehend die Auslieferung des Verdächtigen Bin Laden forderte, reagierten die Taliban überraschend rational. Sie erklärten sich zur Auslieferung bereit, forderten aber Beweise für die Verwicklung des Gesuchten in die Anschläge. (13) Die USA wollten - oder konnten - diese nicht liefern. Bis auf ein unscharfes Video, Wochen später vom Pentagon veröffentlicht, auf dem Bin Laden angeblich seine Planung erläutert, liegt bis heute nichts vor, worauf man einen Gerichtsprozess stützen könnte.
Die amerikanische Regierung gibt zwar vor, inzwischen die beiden Hauptplaner der Anschläge vom 11. September gefangen zu haben (Ramzi Binalshibh und Khalid Sheikh Mohammed). Doch verweigert sie ihnen zugleich - nun schon mehr als fünf Jahre lang - einen öffentlichen und transparenten Prozess. Stattdessen Guantanamo.
Vielleicht kein Wunder, denn Indizien zeigen inzwischen in eine ganz andere Richtung. Zwei der wichtigsten Flugzeugentführer des 11. 9. etwa hatten unter intensiver geheimdienstlicher Überwachung gestanden. Die CIA protokollierte ihre Teilnahme an einem Terror-Meeting 2000 in Malaysia und die anschließende Einreise in die USA. (14) Dort lebten die beiden dann direkt bei einem Informanten des FBI. Dessen Aussage vor der "9/11 Commission" wurde allerdings vom US-Justizministerium blockiert. (15) Senator Graham, dem Vorsitzenden einer parlamentarischen Untersuchungskommission wurde mitgeteilt, dass die Regierung "ein Interview der Quelle nicht erlaube". (16) Parallel erhielt eben dieser Informant vom FBI eine Prämie von 100.000 Dollar, wie ein wenig bekannter interner Revisionsbericht der Behörde in einer Fußnote (auf Seite 252) erwähnt. (17) Eine Information, fast noch besser versteckt, als der Zeuge selbst. Wieder ein kleiner Konfettischnipsel, der zu Boden fällt - vergessen nach nur wenigen Tagen.
Wie die Lieferanten der Zünder im Sauerland. Kleinigkeiten eben.
"Deep Politics", Tiefenpolitik, nennt es der hierzulande wenig bekannte kalifornische Professor Peter Dale Scott. (18) Unter der medial gespiegelten Oberfläche laufen Prozesse ab, deren Langfristigkeit das Aufnahmevermögen und die Vorstellungskraft manchen Beobachters sprengt.
Zum Beispiel Indonesien, ein Land mit über 200 Millionen Einwohnern und amerikanischer Einflussbereich seit Jahrzehnten. Erst holländisch, Ende des zweiten Weltkriegs japanisch, dann unabhängig. 1965 ein von Amerika unterstützter Militärputsch. Eine Million Tote. Der indonesische Geheimdienst agiert seitdem mit tatkräftiger Unterstützung der CIA. Diktator Suharto, ein enger Verbündeter der USA im Kalten Krieg, tritt erst in Folge der Wirtschaftskrise 1998 zurück. Danach gibt es freie Wahlen. Die neue Präsidentin verweigert nach dem 11. September 2001 allerdings ihre Gefolgschaft im "War on Terror" und wird von der Bush-Regierung deshalb unter Druck gesetzt. (19) Auf der anderen Seite nimmt auch Nachbarland Australien die neue Terrorgefahr nicht so ernst, wie gewünscht.
Dann die Auflösung: der Bombenanschlag auf Bali am 12. Oktober 2002 fordert nicht nur über 200 Tote, zumeist australische Touristen, sondern beseitigt auch eben diese Probleme. Indonesien folgt nun den USA (20), genau wie Australien, das nach der Bomben-Attacke eine besonders scharfe Einschränkung der Bürgerrechte in Form von "Anti-Terror"-Gesetzen beschließt. Doch auch hier wird bald deutlich: die Attentäter hatten Kontakte zum indonesischen Geheimdienst. (21) (22)
New York 2001, Bali 2002, Madrid 2004, London 2005, Deutschland 2007 - was geschieht wirklich? Ein aufmerksamer Beobachter kommt nicht umhin, ein Muster zu erkennen. Viele der Terroranschläge der letzten sieben Jahre erscheinen, so betrachtet, nicht mehr nur als Angriff eines globalen militanten Islamismus (den es natürlich gibt), sondern zugleich als cleveres Druckmittel einer globalen Machtclique gegenüber eigenständigen Regierungen - oder einem unwilligen Volk. "Wer nicht für uns ist, ist für die Terroristen", dieses berühmte Zitat von Präsident Bush, ist mehr als eine markige Floskel - nämlich der Ausdruck einer gewollten Polarisierung.
Die aktive Unterwanderung islamistischer Terrorzellen durch amerikanische Geheimdienste und ihre Verbündeten ist für diese Form von "Deep Politics" womöglich nur ein folgerichtiger Schritt.
Anmerkungen:
(1) Pressemitteilung der Generalbundesanwältin, 05.09.07
(2) Stern, 09.09.08
(3) Spiegel, 06.09.08
(4) Spiegel, 29.04.04
(5) ARD, 11.09.07
(6) Zeit, 19.01.06
(7) SWR, 25.06.08
(8) Guardian, 31.10.01
(9) Washington Post, 19.12.00
(10) Stiftung Wissenschaft und Politik, "Aufstandsbekämpfung als Auftrag", Mai 2008, S. 6
(11) UN-Resolution 1386, 20.12.01
(12) Antrag der Bundesregierung, Drucksache 14/7930, 21.12.01
(13) New York Times, 21.09.01
(14) Newsweek, 10.06.02
(15) New York Times, 06.10.02
(16) New York Times, 08.09.04
(17) US Department of Justice, "A Review of the FBI's Handling ...", Juni 2005, S. 252
(18) Website Peter Dale Scott
(19) New York Times, 16.10.02
(20) Pressemitteilung des Weissen Hauses, 22.10.03
(21) International Crisis Group, "ICG Asia Report Nr. 43", 11.12.02, S. 7
(22) SBS Dateline, 12.10.05
(Dieser Artikel erschien in leicht aktualisierter Form im Februar 2009 auch in der Zeitschrift "Ossietzky".)
Quelle des Originalbeitrags: http://www.paul-schreyer.de/recherchen_7.html
Mit freundlicher Genehmigung von Paul Schreyer